In der Monatszeitschrift AA-DACH der deutschsprachigen Anonymen Alkoholiker werden Erfahrungen der jeweiligen Verfasser/Innen mit dem AA-Programm (Schritte, Traditionen, Meetings-Begegnungen, Sponsorschaft etc.) veröffentlicht.
Sie stellen keine Stellungnahme der Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker dar und können nicht auf AA als Ganzes bezogen werden.
April 2025
Monatsthema: Neue Freiheit und neues Glück
Leseprobe:
Freiheit macht stark
Für mich ist noch heute die Erinnerung an das Trinken müssen, ohne es zu wollen, ein Horror.
Wie oft hatte ich mir und anderen versprochen: Morgen oder im neuen Jahr oder wenn dies oder jenes passiert, dann höre ich auf. Ich wollte ja, aber ich konnte es nicht, ich musste trinken. Der Alkohol, der mir zu Beginn die grenzenlose Freiheit versprochen hatte, stutzte mir die Flügel und hielt mich gefangen. Wie sollte ich mich befreien? Ich fand zu den AA, nutzte diese Chance aber nicht. Dass ich ein Alkoholproblem hatte, musste ich einräumen, aber Alkoholikerin wollte ich nicht sein. Trotzdem murmelte ich mein „Inge, Alkoholikerin“ in den Meetings, weil es alle taten.
So richtig zugehörig fühlte ich mich ohnehin nicht. Und ich verließ die AA in der Hoffnung, dass es für mich einen Sonderweg gäbe. Den gab es aber nicht und ich ging durch die Hölle.
Als ich – körperlich und seelisch ein Wrack – an meinem Tiefpunkt angekommen war, durfte ich endlich kapitulieren. Ich akzeptierte meine Krankheit, fand wieder zu den AA und ließ das erste Glas stehen.
Von „Ich will nicht“ zu „Ich muss nicht“
Zu Anfang hatte ich nur einen Gedanken: Ich darf nicht mehr trinken! Der wurde abgelöst von: Ich will nicht mehr trinken! Erst als ich von ganzem Herzen sagen konnte: Ich muss nicht mehr trinken, erfüllte mich ein großes Glücksgefühl und eine Ahnung von Freisein.
In der ersten Zeit wusste ich mit meiner neuen Freiheit noch nicht viel anzufangen. Wo früher Mauern waren, war jetzt freier Raum. In dieser Leere irrte ich orientierungslos umher, ich suchte hier einen Anfang, probierte dort wieder Fuß zu fassen. Misstrauisch beobachteten meine Angehörigen diese ersten Gehversuche aus sicherer Entfernung. Der einzige feste Halt in meinem neuen Leben war für viele erste Wochen meine AA-Gruppe. Hier verstand man meine Nöte. Hier nahm man mich an und an die Hand. Ohne Wenn und Aber.
Gewusel in meinem Inneren
Die Freiheit vom Alkohol machte mich so glücklich, fast euphorisch. So konnte es bleiben. Ich würde mein Leben so weiterführen, wie es vor meiner Trinkzeit war. Das erzählte ich stolz in der Gruppe und ein erfahrener AA sagte: „Wenn du das machst, dann säufst du doch wieder.“
Das war der Warnschuss zur rechten Zeit, der mich aus meinem Wolkenkuckucksheim riss. Erst wehrte ich mich und war sauer auf den Freund. Nach und nach erkannte ich, dass er recht hatte und dass ich an mir arbeiten musste. Ich war zwar frei vom Zwang zu trinken, lag aber noch in vielen Fesseln: Mein schlechtes Gewissen drängte mich, meine vernachlässigten Pflichten mit doppeltem Einsatz wieder gut zu machen. Meine Schuldgefühle quälten mich für Fehler, die nicht wieder gut zu machen waren. Mein Perfektionismus trieb mich zu absolut fehlerfreien Höchstleistungen. Mein mangelndes Selbstvertrauen ließ es nicht zu, dass ich jemandem etwas abschlug. Ich konnte nicht „nein“ sagen und folgte dem Drang, mich kleinzumachen. Dazu kamen Zukunftsängste: „Was ist wenn …?“ So begannen meine Grübeleien, die mich in meinen schlaflosen Nächten verfolgten. Und nicht zuletzt spielten meine Gefühle verrückt. Jahrelang mit Alkohol betäubt, trafen sie mich nun ungefiltert und unvorbereitet. Allein dieses Gewusel in meinem Inneren war eine große Belastung. Und trocken bleiben wollte ich ja auch noch.
Ohne Gruppe wären Pille und Pulle sehr nahe gewesen. Mit viel Geduld und „üben, üben, üben“ akzeptierte ich, dass mein Versagen in der nassen Zeit Folge meiner Krankheit war. Ich wollte es besser machen und das auch vorleben. Ich konnte mein schlechtes Gewissen und meine Schuldgefühle loslassen und gewann ein Stück Freiheit hinzu.
Die nächste Fessel, die ich sprengen musste, war mein Perfektionismus. Ich begriff, was gesunder Egoismus ist. Den Bibelspruch: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ verstand ich plötzlich ganz neu: Ich habe mich nie selbst geliebt, für mich nie etwas in Anspruch genommen.
Ganz, ganz langsam lernte ich, mich zu mögen, meine Bedürfnisse durchzusetzen und mir Fehler zu gestatten. Ich habe eingesehen, dass ich meinen Mitmenschen nur helfen kann, wenn es mir gut geht. Wenn ich mich überfordere und mich dann mit Pille und Pulle stärken muss, ist niemandem gedient. Mit der Umsetzung dieser Erkenntnis erhielt mein Selbstbewusstsein einen großen Schub nach vorne, und ich war wieder eine Fessel los.
Erstens kommt es anders …
Seit ich im Heute leben kann, sind meine Zukunftsängste gewichen. Heute trinke ich nicht. Was morgen kommt, weiß nur meine Höhere Macht. Und morgen ist ein neues Heute. Gegen mein: „Was ist wenn …?“ hörte ich: „Erstens kommt es anders, als man zweitens denkt!“ Dieser Spruch bewährt sich laufend in meinem Leben. Seine Beherzigung bewahrt mich vor unnützen Grübeleien über Dinge, die ich entscheide, wenn es so weit ist.
Loslassen durfte ich die irrige Vorstellung, dass ich Menschen ändern kann. Ändern kann ich mich nur selbst, aber ich kann meinen Weg vorleben.
Mit jedem Stück Freiheit, dass ich mir erkämpft habe, sind meine Kraft und meine Belastbarkeit gestiegen. Mein Selbstbewusstsein ist gewachsen. Ich befinde mich mit meinen Mitmenschen auf Augenhöhe, das Minderwertigkeitsgefühl ist verschwunden.
Die anfängliche Euphorie ist einer tiefen Dankbarkeit gewichen. Dankbar bin ich meiner Höheren Macht, die mich auf wundersame Weise hat kapitulieren lassen. Ich danke meiner Gruppe für ihre unermüdliche Unterstützung und meinen Angehörigen und Freunden, dass sie auch in schweren Zeiten zu mir gehalten haben.
Heute lebe ich in nüchterner Zufriedenheit. Manchmal bin ich sogar glücklich. Vor allem dann, wenn ich mir meine schwer erkämpfte Freiheit von Pille und Pulle so richtig bewusst mache.
Ich komme zurück zu Rousseau: Sicher unterliege ich auch heute noch Zwängen (bewussten und unbewussten). Aber eines ist gewiss: Ich muss nicht mehr trinken – nur für heute!
Gute 24 Stunden
Inge aus Düren
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