In der Monatszeitschrift AA-DACH der deutschsprachigen Anonymen Alkoholiker werden Erfahrungen der jeweiligen Verfasser/Innen mit dem AA-Programm (Schritte, Traditionen, Meetings-Begegnungen, Sponsorschaft etc.) veröffentlicht.
Sie stellen keine Stellungnahme der Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker dar und können nicht auf AA als Ganzes bezogen werden.

März 2025

Monatsthema: Du bekommst nicht das was Du willst, sondern das was Du brauchst

Leseprobe:

Ins rechte Licht gerückt

Den Spruch: „Du bekommst nicht das, was du willst, sondern das, was du brauchst“ kenne ich schon seit den Anfangstagen meiner AA-Zugehörigkeit. Ich muss zugeben, dass ich ihn oft als Hohn, also als abschätzige Äußerung verstanden habe. Immer dann, wenn mir ein Übel widerfahren ist, wenn ich Probleme hatte, wenn mir etwas gegen den Strich ging. Also genau dann, wenn ich ihn überhaupt nicht gebrauchen konnte, kam dieser Spruch. Das hat mich teilweise rasend gemacht. Ich saß im Meeting, habe gelitten und meine Situation und meine Emotionen offen und ehrlich auf den Tisch gelegt. Und dann durfte ich hören, dass dieser Mist, der mir gerade zu schaffen macht, etwas ist, was „ich brauche“. Das hat mich fürchterlich geärgert, und zwar deshalb, weil ich diese Bemerkung folgendermaßen interpretiert habe: „Das geschieht dir recht, das hast du verdient!“ Ich fühlte mich verurteilt und abgelehnt. Es war Wasser auf die Mühlen meiner Empfindlichkeit. Heute weiß ich, dass mich die Personen, die mich am meisten nerven, und die Worte, die mich am härtesten treffen, häufig am weitesten bringen.

Mein Leidensdruck zeigt mir Handlungsbedarf

Offenbar hat bei mir in diesem Punkt ein Sinneswandel stattgefunden. Wie kam das? Ich habe mich zunehmend über alle möglichen Ereignisse aufgeregt, egal ob Autofahrer, Falschparker, störende Nachbarn, nervige Zeitgenossen, Sportverletzung … eben alles, was der Alltag so hergibt. Und über mich selbst habe ich mich noch mehr aufgeregt. Hier schwätze ich zu viel, da bin ich wieder zu empfindlich, das habe ich vermasselt. Sorgen und aufsteigende Ängste, wer weiß woher, überkamen mich. Nach so vielen Jahren Trockenheit war von Gelassenheit keine Spur!

So etwas nenne ich Leidensdruck. Also besteht Handlungsbedarf. An der Realität komme ich nicht vorbei. Ein Suchtmittel kommt nicht infrage. Jetzt erkenne ich, dass Alkohol bei mir stets die Flucht vor der Realität war. Ich putzte die Gefühle weg und sah eine Abkürzung zur Spiritualität. Diese Illusion führte zum totalen Ruin. Diesen Leidensweg habe ich zum Glück hinter mir.

Sport oder Meditation als Ventil sind nicht schlecht, aber nicht die Lösung. Die Gefühle kommen wieder. Ich befinde mich mitten in einer seelischen Zerrissenheit (siehe auch Zwölf Schritte und zwölf Traditionen; Seite 88). Wahrscheinlich denke ich falsch. Aber wo ist die Lösung?

Verantwortlich für meinen Zustand bin sowieso ich, das ist mir klar. Egal was passiert oder welches Ergebnis mein tägliches Tun hat, meine miese Laune ist allein meine Sache.

Jetzt fällt mir ein, dass ich damals, als ich wie durch ein Wunder von der Sucht befreit wurde, meine Sorgen und mein Leben der Höheren Macht anvertraut habe, die mir das Leben gerettet hat. Das will ich mir zuerst mal deutlich bewusst machen. Diese Macht ist da. Welchen besseren Beweis könnte ich dafür haben, als dass es mich noch gibt?

Antwort finde ich im Blauen Buch

Mir fällt der Artikel im Blauen Buch ein: „Akzeptieren ist die Lösung“. Die Lösung! Wer sagt’s denn. Der Abschnitt (Blaues Buch, Seite 229) beginnt mit: „Heute ist Akzeptieren die Lösung für all meine Probleme“. Dieser Artikel ist klasse. Das ist eine Perle, genau wie die Zwölf Versprechen (Blaues Buch; Seite 96-97). Für die tägliche Umsetzung habe ich das Faltblatt „Gestern Heute Morgen“. Ich soll mich also nach den Tatsachen und nicht nach meinen Wünschen richten. Es gibt keine Zufälle. Meine Höhere Macht schickt mir niemals etwas einfach „aus Versehen“. Nicht der nervige Autofahrer oder der Nachbar sind schuld, sondern dies wurde für mich so arrangiert, weil es mich weiterbringen soll. Ich frage mich nicht: „Wieso steht dieser Depp vor mir?“ sondern: „Wieso hat mir meine Höhere Macht diesen Deppen geschickt?“ Jetzt kann ich jeder Situation mit Besinnung begegnen statt mit Aggression. So kann ich Frust in Neugier umwandeln. Zugegeben, das ist nicht immer einfach. Aber ich fühle mich nicht mehr ausgeliefert. Ich kann üben. Schmerz bewusst zu ertragen macht bekanntlich stärker. Das ist genau das Gegenteil von Flucht in die Sucht. Und es wird nun auch deutlich, dass jede Situation das ist, was ich brauche. Sehr oft bekomme ich heute auch schöne Momente oder Erlebnisse geliefert. Diese darf ich genießen und kann wieder auftanken für die nächsten Kraftübungen.

Hans-Jürgen, Basel

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